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Mit Handy und Lupe den Blumen auf der Spur

Thun • Seit dem Frühlingsanfang rückt Hobby-Botaniker Matthias Honegger wann immer möglich aus, um den wildwachsenden Pflanzenbestand auf
Thuner Gemeindegebiet zu bestimmen, zu zählen und zu kartieren. Freiwillig und aus Liebe zur Natur.

Durchschnittliche Lesezeit: ca. 4 Minuten 

«Suchen Sie etwas?», fragt der Handwerker, der seinen Lieferwagen vor einem Mehrfamilienhaus im Thuner Neufeldquartier abgestellt hat. «Soll ich den Wagen umparkieren?» «Nein, nein, lassen Sie ihn nur stehen. Es geht schon. Ich zähle die Blümchen auf dem Parkplatz», antwortet Matthias Honegger, kriecht näher zum Fahrzeug und reckt den Kopf, um zu sehen, wie viele Büschel der wenig spektakulären gelben Blümchen sich darunter befinden. «Das ist Frühlings-Fingerkraut, Potentilla verna, 11 bis 25 Büschel, zwischen Verbundsteinen», murmelt der Hobby-Botaniker und erstellt in einer App auf seinem Handy eine «neue Beobachtung», wo er neben Namen, Anzahl und Fundort auch den Naturalisierungsgrad und die Phänologie der entdeckten Pflänzchen eingibt: «Breitet sich selbständig in der Natur aus, in Vollblüte.»

Botaniker mit Leib und Seele

Matthias Honegger ist einer von 30 Freiwilligen, die derzeit auf Thuner Gemeindegebiet das natürliche Vorkommen von Pflanzen und deren Häufigkeit erfassen. Die Natur liegt dem gelernten Grafiker am Herzen, und die Freude an der einheimischen Pflanzenwelt wurde dem gebürtigen Thuner sozusagen in die Wiege gelegt: «Schon als Bub war ich mit meinem Vater stundenlang in den Bergen unterwegs. Von ihm habe ich gelernt, meine Augen auf das Kleine, Unscheinbare zu richten, neben den Blumen stehen zu bleiben, sie zu betrachten, sie mit Hilfe des Botanikführers zu bestimmen und so ihr Dasein zu würdigen.»

Bei der Erstellung des Floreninventars helfe er nicht nur mit, weil er über eine grosse Artenkenntnis verfüge, sondern vor allem, weil ihm der Naturschutz und die Biodiversität ein Anliegen seien: «Erhalten, fördern und schützen können wir nur, wenn wir Bescheid wissen, welche Pflanzen wo und in welcher Häufigkeit vorkommen», sagt Honegger.

Bedeutungslose Gartenblumen

Der Thuner Naturfreund hat gleich zwei Quadratkilometer zum Bestimmen ausgewählt, die einerseits sein Wohnquartier enthalten, und andererseits eine Zone am und auf dem See, wo es jetzt aber von der Vegetationszeit her noch zu früh ist für eine Bestandsaufnahme. Bevor Matthias Honegger die Potentilla-verna-Pölsterchen entdeckt hat, ist er bei zwei Abfallcontainern stehen geblieben, hat den einen etwas zur Seite gerückt und sich vergewissert, ob es wirklich Maiglöckchen sind, die dahinter wachsen: «Sie könnten mit Bärlauch verwechselt werden.» Diese Maiglöckchen habe er bereits erfasst: «Etwa einen Drittel der Frühblüher im Quadrat 1376 habe ich schon kartiert.»

Im Moment zählt der freiwillige Naturschützer die Frühlingsflora. Später im Jahr wird er die gleichen Spazierrunden durchs Quartier machen, um die Sommer- und Herbstblüher zu erfassen. Heute Nachmittag gehts weiter Richtung Genossenschafts-Wohnsiedlung und Gotthelf-Schulhaus. «Auf dem Areal der Siedlung dürfen wir die Pflanzen erfassen. Sonst inventarisieren wir nur auf öffentlichem Grund und Boden. Gartenblumen sind eh nicht von Interesse. Es sei denn, wir sehen ein besonders natürlich belassenes privates Grundstück. Dann klopfen wir an und fragen freundlich um Erlaubnis, die dortige Flora in die Datenbank aufzunehmen», so Honegger.

Meistens unterliegt die Natur

Der Mann mit der Sonnenbrille auf der Nase, Handy und Botaniker-Lupe griffbereit in der Hosentasche und dem Buch «Flora des Kantons Bern» unter dem Arm steuert in eine Ecke neben der Einfahrt zu einem Einfamilienhaus. Er hat ein Überbleibsel eines Mini-Biotops entdeckt, eine Pfütze nur, zwischen etwas Bauschutt. Eine Iris hat ihre lanzettförmigen, langen Blätter bereits ausgetrieben, die Wasseroberfläche ist übersät mit winzigen, runden, glänzenden Blättchen, auf einem Stein klebt eine Wasserschnecke mit schwarzem, spitzem Häuschen. Honegger kniet nieder und taucht einen Finger ins Wasser, so dass ein paar der weniger als einen Millimeter grossen Pflänzchen daran haften bleiben. Mit der Lupe beäugt der Wildpflanzen-Spezialist den Fund: «Es handelt sich um die Kleine Wasserlinse. Lemna, wie sie auf Lateinisch heissen, sind recht verbreitet. Ich habe sie in diesem Quartier noch nie gesehen, weshalb ich sie in die Datenbank aufnehme.» Ein Mann tritt hinzu, offensichtlich der Besitzer des Einfamilienhauses. Er bekräftigt, dass dieses Loch demnächst aufgehoben werde und die Umgebung baulich neu gestaltet.

Wieder unterwegs sagt Matthias Honegger: «So viele Pflanzen verschwinden wegen baulicher Eingriffe. Im grossen Stil habe ich das letztes Jahr miterlebt beim Bau einer Entwässerungsanlage. Zwar findet bei Projekten von öffentlichem Interesse eine Interessenabwägung statt, die Natur zieht aber meistens den Kürzeren. Das tut mir weh!»

Auch Neophyten werden erfasst

Nichtsdestotrotz sei die Flora auf Thuner Stadtgebiet mit etwa 1000 verschiedenen Arten reichhaltig. Der Grund dafür seien die vielen unterschiedlichen Lebensräume von nass bis trocken, Naturschutzgebiete, Wälder und die Allmend. In der Ebene finden sich herabgeschwemmte Gebirgspflanzen. «Früher durchfloss die Kander das Gebiet, weshalb der Boden mit Kalk angereichert wurde. Viele Pflanzen mögen das sehr.»

In zwei Stunden hat Matthias Honegger auf seinem etwas speziellen Stadtspaziergang unzählige Naturschönheiten angetroffen: Schlüsselblumen, kriechenden Günsel, Ehrenpreis, Hirtentäschchen, Mauerpfeffer, Seggen, Fettkraut, Frauenmänteli, Schönkraut, Hahnenfuss, Feldhainsimse, Labkraut, Zimbelkraut, die Kleine Malve, eine Wald-Platterbse, Kohl-Gänsedisteln, kahles Bruchkraut, Knoblauch-Hederich, Kammgras und viele mehr. Einige hat er längst in der Datenbank erfasst, zwei Dutzend Arten hat er neu in die App eingegeben, darunter auch einen «fürchterlichen Neophyten», wie Honegger die armenische Brombeere bezeichnet: «Sie verwildert sehr leicht, wuchert in den Wäldern und verdrängt den einheimischen Pflanzenbestand».

Harmonierende Pflanzenwelt

Der Hobby-Botaniker bückt sich und riecht an einem Büschel traubenförmiger, blauer Blümchen: «Bisamhyazinthen, wahrscheinlich Gartenflüchtlinge. Sie riechen nach Pflaumen.» Das Aufsuchen der mannigfaltigen Floren-Gattungen und -Arten empfindet der Naturfreund als friedliches Ereignis: «Mich berührt, wie die Pflanzen aufeinander abgestimmt sind. Die Blumen kommunizieren untereinander, die anwesenden Tiere und ich selbst inbegriffen. Das erlebe ich auch beim Malen in freier Natur. Wenn ich reine Farben auftrage, fangen die Vögel an zu pfeifen», berichtet der musisch veranlagte Mann, der draussen oftmals nicht nur als Botaniker sondern auch als Zeichner und Maler unterwegs ist.

Floreninventar Region Thun

Die Kartierung der regionalen Spontanvegetation hat zum Ziel, die Biodiversität der einheimischen Pflanzenwelt besser zu kennen und dadurch auch besser schützen zu können. «In unserer Gegend dürfen wir stolz sein auf eine vergleichsweise grosse Florenvielfalt. Das möchten wir der Bevölkerung aufzeigen und gleichzeitig das Bewusstsein wecken, dazu Sorge zu tragen», sagt Kasper Ammann, der Koordinator des Pro-Natura-Thun-Projekts. Die Erhebung erfolgt durch Freiwillige mittels einer App. Die Daten werden an die zentrale Datenbank Info Flora weitergeleitet und ausgewertet. Das Inventar sei nicht nur von gesellschaftlicher und ökologischer Bedeutung, sondern komme auch der Wirtschaft zugute: «So kann es dereinst als Grundlage dienen für die Herstellung regionalspezifischer Saatmischungen oder den Gemeinden als hilfreiches Instrument, beispielsweise bei Baugesuchsentscheiden oder bei der Bekämpfung invasiver Neophyten.» Das Projekt wurde Mitte März auf Thuner Boden gestartet und wird drei Jahre dauern bis zum Abschluss in der Stadt Thun. Parallel dazu wird die Kartierung im Laufe der Zeit auf angrenzende Gemeinden ausgedehnt.

Denise Gaudy

Weitere Informationen unter: www.flora-region-thun.ch

Der obige Artikel erschien im Original unter dem Titel „Mit dem Handy und der Lupe den Blumen auf der Spur“ im Berner Landbote Nr. 11

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