Personalisierte Ergebnisse benötigen mehr Chaos – jetzt erst recht!
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Früher war das Internet ein Ort des Staunens – heute ist es ein Service. Mit dem neuen Suchmodus «AI Mode» rückt Google nicht mehr das Netz, sondern die maschinelle Intelligenz ins Zentrum. Seit dem 8. Oktober ist diese Funktion auch in der Schweiz verfügbar. Statt einer Liste mit blauen Links erhalten Nutzerinnen und Nutzer nun eine direkt formulierte Antwort. Google nennt das die Zukunft der Suche – ich nenne es das Ende des Zufalls.
Was auf den ersten Blick wie ein Komfortgewinn wirkt, verändert das Wesen des Webs grundlegend. Wenn eine KI die Antwort liefert, bevor wir überhaupt anfangen zu suchen – was bleibt dann noch vom Entdecken, vom Irrtum, vom Stolpern über das Unerwartete?
Von der Suchmaschine zur Antwortmaschine
Der neue Suchmodus ersetzt die traditionelle Ergebnisliste durch eine kompakte Zusammenfassung. Ein paar ausgewählte Quellen erscheinen noch am Rand – wie Fussnoten in einem Text, den Google bereits für uns geschrieben hat. Studien aus den USA zeigen: Nur noch ein Prozent der Nutzerinnen und Nutzer klickt auf diese Links. Das offene Netz wird unsichtbar. Rund zwei Drittel aller Online-Aktivitäten beginnen in einer Suchmaschine – und neun von zehn Suchanfragen laufen über Google.
Mit dem AI Mode sorgt Google dafür, dass Nutzerinnen und Nutzer nicht nur Antworten erhalten, sondern auf der Plattform bleiben. Alles Nötige gibt es gleich dort: Informationen, Werbung und bald auch Shopping-Optionen oder Services – weiterführende Links erscheinen nur noch als Anmerkung. So verwandelt sich die Suche von einem offenen Spielplatz in ein geschlossenes Ökosystem, ähnlich wie OpenAI es bei ChatGPT mit Shops und Partnerangeboten vorsieht.
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Ein anschauliches Beispiel: Wer früher nach «beste Reisezeit Japan» suchte, stiess auf eine Fülle von Blogs, Erfahrungsberichten und Tabellen. Heute liefert die KI direkt die Antwort:
💬 «Die beste Reisezeit für Japan liegt im Frühling (März bis Mai) und Herbst (September bis November), wenn das Wetter mild und die Landschaft besonders schön ist.»
Darunter erscheinen nur noch ein paar unscheinbare Quellen – das war’s. Kein Klick, kein Stöbern, kein Vergleich zwischen den Stimmen, die früher den Reiz der Suche ausmachten. Die Maschine entscheidet, was relevant ist – und was nicht.
Die KI zerlegt Fragen in Unterthemen, durchsucht gleichzeitig mehrere Quellen und präsentiert eine ausformulierte Antwort – als wäre ein digitaler Assistent im Raum, der sofort Rat weiss. So wird die Suche zum Chatbot-Erlebnis, bei dem Nutzerinnen und Nutzer oft gar nicht mehr selbst entscheiden müssen, weil die Auswahl ihnen abgenommen wird.
Googles Suchvizepräsidentin Hema Budaraju nennt das die «natürliche Evolution der Suche». In Wahrheit handelt es sich jedoch um einen Bruch: Die Suche wird präskriptiv, nicht explorativ. Wie ein Arzt, der dir ein Rezept ausstellt – die Maschine entscheidet, was wir wissen sollen, und was nicht.
Das Ende der digitalen Serendipität
Schon seit Jahren leben wir in Informationsblasen, gepflegt von Algorithmen, die unsere Vorlieben besser zu kennen glauben, als wir selbst. Und als ob diese Algorithmen nicht schon aggressiv genug wären, geht der AI Mode noch einen Schritt weiter. Wer dachte, das Problem beschränke sich auf Social Media wie TikTok, sieht hier dieselbe Logik in der Suche: personalisierte Kontrolle, Filterung, Manipulation – diesmal getarnt als Hilfe bei der Suche nach Antworten.
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Dabei war das Internet einst ein wilder, anarchischer Ort. Jede Suchanfrage konnte zum Abenteuer werden: Zwischen wissenschaftlichen Artikeln, Fanforen und dubiosen Blogs stiess man auf Dinge, die man nie gesucht, aber dringend gebraucht hat – Serendipität nennt sich das: der glückliche Zufall der Erkenntnis.
Diese Momente werden nun algorithmisch weggefiltert – aus Bequemlichkeit, aus Effizienz, aus Angst vor dem Unbekannten. Und vor allem aus Angst, dass Nutzerinnen und Nutzer die Plattform verlassen. Schon beim Fernsehen war jede Sekunde Aufmerksamkeit während der Werbeblöcke entscheidend – damals wie heute: Sender wie Plattformen wollen nicht, dass jemand aufsteht, weil jede Sekunde Geld in die Kasse spült.
Warum wir wieder mehr Unordnung brauchen
Ein bisschen Chaos tut gut – gerade jetzt, wo die digitale Welt zu glatt poliert wird.
Denn:
- Chaos beflügelt Kreativität. Wer nur das bekommt, was er schon mag, denkt nie neu.
- Chaos bricht Routinen. Es zwingt uns, wieder neugierig zu werden.
- Unordnung ist effizienter, wenn sie den gesunden Menschenverstand herausfordert, anstatt ihn auszublenden.
- Serendipität hält agil. Sie trainiert das Gehirn, Umwege als Chance zu begreifen.
Kurz gesagt: Ein gewisses Mass an Unordnung ist der Nährboden geistiger Freiheit.
Wie du den Algorithmus austrickst
Es gibt Wege, das Netz wieder unvorhersehbarer zu machen – du musst sie nur gehen:
- Klicke auf Ausreisser. Suche nicht nur auf Seite eins. Das Netz ist grösser als die Google-Vorschau.
- Nutze alternative Suchmaschinen wie Kagi, Marginalia oder Mojeek — kleine Umwege, grosse Entdeckungen.
- Prompte bewusst unpräzise. Stelle absurde Fragen, bleibe vage, lass deiner Formulierung Raum für Interpretation – und freue dich über Unerwartetes.
- Lass Chaos einziehen. Folge Leuten, die dich irritieren. Abonniere Newsletter, die du nie abonnieren würdest. (Ja, wirklich.)
- Like mit Ökonomie. Bewahre Likes als knappe Ressource — dann behalten sie Gewicht.
Fazit: Zwischen Algorithmus und Abenteuer liegt nur ein Klick
Der AI Mode zeigt: Google will nicht mehr, dass wir suchen – sondern dass wir vertrauen. Doch wenn jede Antwort schon vorgekaut ist, stirbt der Erkenntnisprozess leise.
Vielleicht sollten wir die Suchmaschine wieder verwirren, statt uns von ihr definieren zu lassen.
Denn wer immer nur perfekte Antworten bekommt, stellt irgendwann keine Fragen mehr.
Dieser Artikel entstand aus aktuellem Anlass und greift das Prinzip des Beitrags von 2020 «Personalisierte Ergebnisse benötigen mehr Chaos» auf: Suchergebnisse sollten wieder mehr Vielfalt bieten, damit wir beim Surfen auch auf Unerwartetes stossen – gerade jetzt, wo personalisierte Ergebnisse jede Entdeckung vorwegnehmen.